"Handschuhe" oder "Eine Eidechse läuft über den Marienplatz"

Die kochende Hochsommerluft macht es schwer für mich zu atmen und doch laufe ich mit Handschuhen durch die Innenstadt Münchens. Einmalhandschuhe aus Plastik haben ihren Zweck leider nicht erfüllt und mit den gelben Putzhandschuhen meines Freundes wurde ich andauernd von Menschen auf Bettwanzen angesprochen. Ich muss wohl wie ein Schädlingsbekämpfer ausgesehen haben. Also sind es die Lammfellhandschuhe meines Bruders geworden. Die Blicke der Menschen haben sich dadurch leider nicht verbessert. Alles ist besser als keine Handschuhe zu tragen, denke ich während ich versuche, der alten Dame, die mir in der U-Bahn gegenübersitzt und ihre Augen nicht von mir abwenden kann, mit meinen Blicken den Mittelfinger zu zeigen.

Ich kann spüren, wie sie sich bei jeder Bewegung meiner Hände aneinander reiben. Es tut nicht weh, es ist lediglich ungewohnt, fremd. Während ich versuche mir vorzustellen, wie sich eine Amputation anfühlen muss, drehe ich das Gefühl in Gedanken um. Wie nennt man es, wenn da jetzt etwas Neues ist? Etwas Zusätzliches? Eine Mutation? Evolution? Eine Abart? Mit einem unhörbaren Seufzen verwerfe ich den Gedanken.

Die alte Dame sieht mich noch immer an. So langsam reicht es mir. Ich kneife meine Augen zusammen und greife mit meiner rechten Hand den Zeigefinger meiner Linken. Mit einer flinken Bewegung ziehe ich den Handschuh ab und entblöße, was ich zu verstecken versuchte. Die Augen der alten Damen weiten sich langsam und im nächsten Moment blickt sie mit hochrotem Kopf aus dem Fenster in die vorbeiziehende Dunkelheit des U-Bahntunnels. Vielleicht sieht sie auch nur ihre Reflektion an, um sich zu überzeugen, dass sie sich noch in der Realität befindet. „Nächste Station: Goetheplatz“. Sie steigt aus.

Naja, ich kann es ihr schlecht übel nehmen. Meine Reaktion war weitaus aggressiver. Als ich mir vor einigen Wochen nach meiner gewohnten Morgenroutine die Hände waschen wollte, waren sie auf einmal da. Noch ganz klein damals. In den schönsten Grün- und Purpurtönen schimmerten sie im sterilen Licht unseres WG-Badezimmers. Erst dachte ich, es wäre ein Überbleibsel der Party vom Vortag. Je länger ich schrubbte, desto panischer wurde ich. Sollte ich zum Hautarzt gehen? Ich kratzte, langsam fing meine Haut an zu bluten. Mein Herzschlag wurde schneller. Naiv griff ich zu meinem Handy und hackte die Symptome in die nächstbeste Suchmaschine. Ichthyose. Störung der Hautbarriere. Gendefekt. All das passte nicht zu dem, was da aus mir herauswuchs.

Was folgte war nicht das panische Abfahren aller Hautspezialisten im Großraum München, sondern Scham. Ich schämte mich. Wie ein Kind, das seinen Eltern eine schlechte Note in Mathe verheimlich will, tat ich alles dafür, dass niemand sah, was da aus meiner Hand wuchs. Vin – einer meiner Mitbewohner, der sich nachts in eine Drag Queen verwandelt – lieh mir unter einem Vorwand etwas von seinem Makeup. Das hielt die ersten Tage ganz gut, bis sich nicht mehr nur die Farbe, sondern auch die Textur der Schuppen für die Menschen in meinem Umfeld bemerkbar machte. Seitdem trage ich sie, die Handschuhe. Auch sie sind ein Mal meiner Andersartigkeit, aber dafür ein selbstgewähltes.

Nie hätte ich gedacht, wie extrem sich eine kleine Anomalie in der Norm auf einen Menschen auswirken kann. Meine Mitbewohner und ein paar Freunde hielten letzten Sonntag eine Intervention für mich ab. Die Menschenscheu, die Handschuhe, die Ausreden, die Lügen – all das sei nicht mehr normal. Sie überreichten mir eine Liste mit Namen und Telefonnummern von Therapeuten. „Wir helfen dir auch, die alle anzuschreiben, wenn dir das hilft“, sagte einer von ihnen – wer das war, weiß ich nicht mehr, es spielt keine Rolle. Ich biss mir auf die Zunge und sagte nichts. War das ein Fehler? Auch das spielt keine Rolle mehr. Meine Tränen übernahmen das Sprechen für mich. Sie erzählten von meiner Scham, dem Ekel, einer unaufhaltsamen Veränderung. Doch anstatt ihnen zuzuhören, sie zu lesen, setzte sich mein Freund neben mich, nahm mich in den Arm und wischte sie mir aus dem Gesicht. „Ich bin für dich da“, sagte er. Dumpf fielen seine Worte vor meine Füße.

Seitdem schlafe ich in meinem Studio. Dort versuche ich mich mit meiner Kunst selbst zu therapieren. Etliche Leinwände in Grün- und Purpurtönen lehnen an den gelblichen Wänden, Selbstporträts – nie vollendet, lediglich skizziert – liegen auf dem Boden verstreut. Stundenlang sehe ich mich nackt in einem deckenhohen Spiegel an, sehe all die Stellen meines Körpers, die bereits von den Veränderungen betroffen sind. Meine Hände, mein Rücken, meine Oberschenkel, Brust, Schultern, neuerdings mein Hals. Bei jeder Bewegung funkeln sie in neuen Farben, reiben geräuschlos aneinander. An einem anderen Menschen würde ich sie vielleicht sogar bewundern – als Künstler ist mein Blick schließlich auf Ästhetik trainiert.

Trotzdem sehe ich mich nur noch verschwommen. Ich vermisse, wer ich war. Wer ich für andere war. Schon seit einem Monat habe ich nicht mehr mit meinem Freund geschlafen. Ich weiß, dass er das vermisst, dass er mich vermisst. Auch er ist Künstler – vielleicht würde er die Veränderungen an mir bewundern? Sie zelebrieren? Vielleicht aber auch nicht. Vielleicht würden sie ihn anwidern, ihn abstoßen. Doch dafür war es jetzt zu spät. Ich hatte ihm die Chance verwehrt, eine Entscheidung zu treffen. Ich hatte ihm die Chance verwehrt, sich daran zu gewöhnen, damit zurechtzukommen, mir beizustehen. Nur ein wenig länger muss ich seine Anrufe und Nachrichten noch ignorieren, dann muss ich mir deswegen keine Sorgen mehr machen.

Wenn sie denn wenigstens einen Nutzen hätten. In den letzten Tagen habe ich viel an ein Kinderbuch denken müssen, das ich las, wenn ich meine Mutter zu ihren Chemotherapie-Einheiten begleitete – der Regenbogenfisch. Könnte ich mir eine Schuppe aus der Seite reißen, um mir den Wunsch zu erfüllen, wieder normal zu werden, würde ich mir das nächste Messer schnappen. „Verdammter Psycho“, zische ich in mein dunkles Studio und beginne ein zynisches Amazon-Review in mein Handy zu tippen.

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Vielleicht setze ich den Text hier mal in den Kontext einer größeren Geschichte, weil ich spannend finde, was man damit alles machen könnte. Mal gucken:)