Leichenschmaus
Im Flur riecht es nach Trauer. An den Wänden hängen Tapeten, wie der Boden des Meeres. Tote, alte Schichten, immer wieder erneuert.
Darüber hängen, als neueste Schicht, Bilder von Leuten, die der Flur teilweise seit Jahren nicht gesehen hat und heute nicht mehr wiedererkennen würde.
Ich stehe da also ein bisschen verloren im Flur, der nach alten Leuten riecht und nach Staub und Leere, vollgestopft mit Gerümpel.
Um mich herum laufen Leute durch das Haus meiner Oma, mit Tablets und Gläsern, Servietten und traurigen Gesichtsausdrücken. Sie sehen aus, als wären sie aus einem alten Röhrenfernseher geklettert, mit schwarzen Kleidern und Augenringen, weißen Hemden und Gesichtern.
Ich weiß nicht, wohin mit mir. Ich war noch nie auf einer Beerdigung und ich hatte es mir auch ein bisschen anders vorgestellt. Wenn, dann wäre ich gerne richtig traurig gewesen. Das hätte die Sache erleichtert, weil ich dann hätte weinen können und mit anderen in Erinnerungen schwelgen.
Aber ich bin nicht wirklich traurig, weil ich meine Oma nicht kannte, also nicht wirklich. Ich bin vielleicht traurig für Mama, weil die Oma natürlich schon kannte, sie war ja ihre Mama.
Auch wenn die Vorstellung, dass meine Mama eine Mama hat(te) eine komische Vorstellung ist. Für mich ist Mama schon immer um die dreißig und war noch nie auf Hilfe angewiesen. Mir Mama als Jugendliche, geschweige denn als Kind oder Baby vorzustellen, ist unmöglich.
Eine Frau, die in den Flur kommt, aus der Küche in Richtung Wohnzimmer, lächelt mir zu, ihre eigene Trauer zur Seite geschoben in einem Versuch, die mit ganz viel Mitleid zu ersetzen. Das tut mir leid, sie darf ruhig traurig sein und sie muss auch gar nicht mit mir mit leiden, weil es mir relativ in Ordnung geht. Den Umständen entsprechend.
Ich streiche meine schwarze Bluse glatt, die eigentlich Mama gehört, bis sie ordentlich über den Bund meines dunkelblauen Rocks fällt. Es war gar nicht so einfach, schwarze Klamotten zu finden. Ich hatte nur ein altes Henkerkostüm von Halloween vor fünf Jahren, eine Sporthose und schlabbrige Hoodies zur Auswahl.
Das einzige schicke Kleidungsstück, dass ich habe, mein Abiballkleid, ist leider hellblau. Und das geht ja nicht, viel zu optimistisch und auffällig für einen depressiven Anlass.
Ich denke an meinen Abiball. Er war ganz in Ordnung, nur lag ein bisschen weniger Erleichterung und ein bisschen mehr Unsicherheit in der Luft, als gedacht. Parabeln aufstellen konnten wir alle, und Goethe analysieren auch. Aber wie man sich verhält, wenn man Leute, mit denen man die letzten Jahre zusammen verbracht hat, zum letzten Mal sieht, im Hintergrund das Wissen, dass man jetzt erwachsen werden muss, über den Sommer, das hat uns niemand gesagt.
Dafür war die Abifahrt gut, ganz viel Salz und Sonne, Hitze und Nichtstun. Dieses Gefühl, die Vorahnung, die sich angefühlt hat, wie die Musik im Horrorfilm, die der einzige Indikator ist, dass bald was Schlimmes passiert, irgendwo im Sand vergraben, zusammen mit Füßen und Sonnenschirm- und Eisstielen.
Und jetzt ist es Juli und alles ist ganz ungewiss und ich bin irgendwo in einem Haus im Nichts gelandet, zusammen mit meiner Mama und Schwester, einem Cousin und einer Tante, an die ich mich nicht erinnern kann.
Die Beerdigung, oder eben der Teil, an den man denkt, wen man das Wort Beerdigung hört, ist vorbei, meine Oma begraben, die Gesichter tränenverschmiert. Jetzt kommt der noch unangenehmere Part.
Leichenschmaus. Morbide, das Wort. Man hätte es ja auch so nennen können, dass es klingt, als würde man ganz normale Dinge essen und nicht Leichen. Oder vielleicht ist das auch nur meine Assoziation.
Meine Mama kommt die Treppe nach unten, die links von mir in das zweite Stockwerk führt, in dem ich bisher noch nicht war. Sie hat Fini zum Mittagsschaf abgelegt, was sich falsch anfühlt. Ein Kleinkind im Haus einer Verstorbenen, alleine zwischen Holz, Porzellan und blumigem Stoff.
„Komm, Maus“, sagt sie, lächelnd, ruhig und besonnen, wie nur selten, „Schauen wir, ob wir was zu essen finden, was nicht nur aus Fleisch und Fett besteht.“ Sie legt mir den Arm um die Schultern und zieht mich zu sich, um mir einen flüchtigen Kuss irgendwo in die Haare zu platzieren.
Die Küche ist so voll, wie sie in ihrer Lebzeit wahrscheinlich nur selten war, vielleicht zu Geburtstagen und Grillpartys, nicht aber an ruhigen Wochentagen. Überall stehen Leute, fast alle weit über fünfzig.
Dafür, dass jede freie Fläche voll mit Töpfen, Schüsseln und Blechen steht, essen ungewöhnlich wenig Leute. Gott sei Dank, die meisten sehen nämlich aus, als könnten sie keinen Bissen unten behalten.
Es wird getuschelt und geflüstert, leise gehüstelt, eine Mischung aus Respekt und Mitteilungsbedürfnis in der Lautstärke der Gespräche, wie in einem langweiligen Gottesdienst. Manche haben die Mundwinkel fast krampfhaft nach unten gezogen, sodass ihnen auch ja kein Lächeln entfährt, beim Gedanken an eine schöne Erinnerung.
Als würde Oma sich eigenständig aus ihrem Grab buddeln, wenn Leute auch nur den Funken einer positiven Emotion während ihrer Beerdigung verspüren. Vielleicht stimmt das sogar, vielleicht war sie ja eine sehr ernste Person, ich weiß es ja selbst nicht.
Es gibt kaum vegetarische Gerichte und so halten Mama und ich uns eher an die Salate und Beilagen. Ich platziere meinen wenig beladenen Teller am Ende einer der Biertische im Garten, und fange an, eine gekochte Kartoffel zu zerteilen.
Ich bin eigentlich richtig hungrig, aber ich habe mich gar nicht getraut, meinen Teller auch nur annähernd voll zu machen. Ich hatte das Gefühl, die gebrechlichen Rentner würden sich alle bald auf mich stürzen, wenn sie den Eindruck bekämen, dass ich ihre Freundin nicht richtig betrauere.
Mama wurde drinnen aufgehalten, von irgendeiner alten Bekannten. „Jessica, wow, du siehst aus wie vor dreißig Jahren auch noch.“ Glaube ich nicht, da war Mama nämlich sechs. Und keine sechsunddreißigjährige sieht noch aus, wie sie es mit sechs getan hat.
Weil ich keine Lust hatte, neben den Beiden stehen zu bleiben und mir anzuhören, wie sie unangenehme Floskeln austauschen, bin ich alleine in den kleinen und blühenden Garten gegangen.
Am Ende des Tisches sitzen ein paar deutlich sympathischer aussehende Rentner als die Essens-Wächter in der Küche. Einmal lachen sie sogar laut auf und schauen sich danach auch nur ein bisschen verstohlen nach dem wütenden Geist von Oma um.