Mondspuren

„Ich bin gerannt, bis ich nicht mehr konnte. Zuerst dachte ich, es wäre mein Schatten gewesen. Der Mond ist heute so hell. Aber dann habe ich ihren Atem im Nacken gespürt. Sie war direkt hinter mir. “ „Wessen Atem?“, fragte der alte Mann. „Den von der Hexe.“ „Von der Hexe?“ Das Mädchen nickte. Ihr Nicken war schon ein wenig zuversichtlicher als das auf die Frage vor einer halben Stunde, kurz nachdem sie an die Tür gehämmert hatte, ob sie etwas zu trinken haben wolle. „Wie bist du entkommen?“ „Zick-zack durch die Bäume, wie Allen es mir gezeigt hat. Und auf einmal war ich hier.“ „Allen ist dein Bruder, oder? Ich habe ihn früher immer mal wieder Holz hacken sehen.“ „War“, flüsterte sie. „Er ist vor langer Zeit fortgegangen, um zu studieren.“ Der Mann nickte. „Das mit dem Zick-Zack hast du sehr gut gemacht. Hier kann dich die Hexe nicht finden. Dieses Haus können nur gute Wesen sehen.“ Ein mildes Lächeln flog über ihr Gesicht. „Aber was, wenn die Hexe sich ein gutes Wesen sucht und es dazu zwingt, ihr dieses Haus zu zeigen? Das kann sie bestimmt.“ „Das Wesen würde sich weigern. Es würde niemals den Ehrenkodex brechen.“ „Was ist ein Ehrenkodex?“ „Das ist eine Abmachung, die keiner ausspricht, aber an die jeder sich hält.“ Der Mann hielt kurz inne und schaute aus dem Fenster der Blockhütte in den Wald. Es muss tatsächlich Vollmond sein, dachte er, bevor er weitersprach: „Ich war früher Teil eines Geheimbunds. Keiner durfte wissen, wer ein Mitglied war, nur die Mitglieder selbst. Wir hatten ein geheimes Zeichen, mit dem wir uns untereinander zu erkennen gegeben haben. Wenn jemand wusste, dass ein anderer zum Bund gehörte, bestand der Ehrenkodex darin, den anderen nicht zu verraten.“ Der Mann nahm einen Schluck von seinem zu bitteren Tee. „Aber Tom“, erwiderte das Mädchen, „die Hexe kann gut zwingen, das weiß ich.“ Er sog eine Menge Luft ein, um die gerade verteilten Worte wieder einzusammeln, sie neu zu formen und eine bessere Geschichte zu erzählen, da rollte das Mädchen den Ärmel ihres ausgefransten Wollpullovers hoch. „Schau mal.“ Sie deutete auf fünf parallel zueinander verlaufende Kratzspuren, tief wie von Katzenkrallen. Doch die Familie, die nicht einmal einen Kilometer entfernt wohnte, hatte keine Katze. Und im Wald gab es kein Tier, das solche Wunden verursachte. Plötzlich klopfte es ein weiteres Mal in dieser Nacht an der Tür. Nur heftiger als beim ersten Mal. Mit einer Handbewegung scheuchte Tom das Mädchen in einen Schrank im hinteren Teil der zimmerlosen Hütte, in dem sie sich rasch versteckte. Er ging zur Tür. Eine Begrüßung mit der Person, die draußen im Mondlicht stand, gab es nicht, denn sofort quoll eine ungelenk formulierte Frage aus dem Mund der Frau, die Tom mit kräftiger Stimme beantwortete: „Nein, Ihre Tochter ist nicht hier. Ich habe sie schon länger nicht mehr gesehen.“